Händel, Farinelli und der Prince of Wales 1734

Händel-Haus-Blog 01/2024
Juliane Riepe (Abt. Bibliothek/Archiv/Forschung)


„Ihr fragt mich, wie Farinelli mir gefällt“ - Das Händel-Haus erwirbt einen Brief aus dem englischen Königshaus

Im Oktober 1731 lernen sich zwei junge Männer in London kennen. Sie freunden sich an, bleiben auch in den folgenden Jahren miteinander in Briefwechsel, senden einander Musikalien und schicken Grüße an die Familienmitglieder. Der eine der beiden jungen Herren ist der älteste Sohn König Georgs II. von Großbritannien und englische Thronfolger Frederick Louis Prince of Wales (Friedrich Ludwig von Hannover, 1707-1751), der andere Herzog Franz Stephan von Lothringen (1708-1765); er wird wenige Jahre darauf Erzherzo­gin Maria Theresia von Österreich heiraten und neben der späteren Kaiserin als Franz I. über weite Teile Europas herrschen.

Und worüber schreibt man sich, von Prinz zu Herzog?

Es geht um Musik, um Sänger – und um Händel.

Im vergangenen Jahr gelang es der Stiftung Händel-Haus, ein wichtiges Dokument aus dem unmittelbaren Umkreis Händels für ihre Sammlung zu erwerben. Der autographe Brief des Prinzen von Wales Frederick Louis, der in der Forschung bislang unbekannt war, dokumentiert quasi in kondensierter Form die biographische und musikhistorische Situation Händels und der musikalischen Akteure aus seinem Umkreis in einer für ihn bedeutungsvollen Situation: der Konkurrenz zwischen seinem eigenen Opernunternehmen und der 1733 gegründeten Opera of the Nobility.

1719 hatten wohlhabende englische Aristokraten die Royal Academy of Music gegründet, ein vom König bezuschusstes Aktienunternehmen, das dazu dienen sollte, in London ein glänzendes Opernhaus zu finanzieren – eine eigentliche Hofoper gab es schließlich nicht. „Master of the Orchestra“ und zuständig für das Engagement italienischer Sänger war Händel. Nach fast zehn Jahren (1728) schloss das Unternehmen mit Verlust. 1729 erfolgte ein Neubeginn, wiederum unter der Leitung Händels, dessen Werke nun den Spielplan dominierten. Dies und Händels Zerwürfnis mit dem Kastraten Senesino, europaweit berühmt und eine der sängerischen Hauptattraktionen der Oper, führte dazu, dass ein Teil der adeligen Unterstützer von Händel abrückte und 1733 ein eigenes Unternehmen gründete, die Opera of the Nobility. Das Engagement der italienischen Sänger nahm man selbst in die Hand; die musikalische Leitung wurde Nicola Porpora (1786-1768) übertragen, einem der damals gefragtesten Komponisten Italiens. Außerdem engagierte man mit Porporas Schüler Carlo Broschi gen. Farinelli (1705-1782) den wohl berühmtesten Kastraten seiner Zeit.

Carlo Broschi gen. Farinelli
Kupferstich von Joseph Wagner nach einem Gemälde von Giacomo Amigoni (1735)
(Stiftung Händel-Haus, Halle)

Händel seinerseits hatte sich mit dem Sopranisten Giovanni Carestini (1700-1760) ein ‚Zugpferd‘ gesichert. Dennoch geriet er in Bedrängnis – die Konkurrenz durch die Opera of the Nobility musste zu einem Einnahmenverlust führen, selbst wenn sich das eigene Unternehmen behaupten konnte. Denn einem größeren Angebot entsprach keine größere Nachfrage; aufgrund der Eintrittspreise war Oper in London ein Oberschicht-Vergnügen. Im August 1734 kursierte in London das Gerücht, Händel werde aufgeben und zurück nach Deutschland gehen.

Die beiden rivalisierenden Opernunternehmen spalteten das Londoner Publikum, aber auch die königliche Familie. Das Verhältnis zwischen König Georg, Königin Caroline und dem Thronfolger, Prinz Frederick, war seit längerem mehr als nur gespannt. Der König hatte Händel schon immer unterstützt (auch finanziell), dasselbe galt für Frederick.

Frederick Lewis Prince of Wales. Schabkunst von Thomas Frye (1741?)
(Stiftung Händel-Haus, Halle)

Von 1733 an ließ der Prinz seine Zahlungen allerdings nicht mehr Händels Unternehmen zukommen, sondern der Opera of the Nobility. Die erste Oper der Saison wurde in seinem Haus geprobt; Frederick ließ sich Abschriften der Londoner Opern Porporas anfertigen; Porpora widmete dem Prinzen Kantaten und Instrumentalmusik. Händels Opernproduktionen besuchte der Thronfolger zumindest eine Saison lang nicht mehr (1734/35). Die drei ältesten Schwestern des Prinzen wiederum, Anne, Amelia und Caroline, hielten Händel, ihrem langjährigen Musiklehrer, die Treue.

Händel als „Musick-Master“ der ältesten Prinzessinnen
The Establishment of the Household of their Royal Highnesses the Princess Royal, the Princess Emelia, and the Princess Caroline, &c.
in: The true state of England. Containing the particular duty, business and salary of every officer, civil and military, in all the publick Offices of Great Britain, London 1734, S. 59

Ende September 1734 traf Farinelli in London ein, der Star der Opera of the Nobility in der kommenden Saison. Am 10. und 17. Oktober sang er vor der königlichen Familie in Kensington. Wie der Sänger später berichtete, begleitete ihn dabei Prinzessin Anne am Cembalo.

A Front View of the Royal Palace of Kensington, Kupferstich von Benjamin Cole (1756) Zur Zeit König Georgs II. war Kensington Palace eine der königlichen Residenzen in London (heute ist es die offizielle Londoner Residenz der Familie des britischen Thronfolgers). In seiner Funktion als Musiklehrer der drei ältesten Töchter Georgs II. besuchte Händel den Palast häufig.

A Front View of the Royal Palace of Kensington, Kupferstich von Benjamin Cole (1756)
Zur Zeit König Georgs II. war Kensington Palace eine der königlichen Residenzen in London (heute ist es die offizielle Londoner Residenz der Familie des britischen Thronfolgers). In seiner Funktion als Musiklehrer der drei ältesten Töchter Georgs II. besuchte Händel den Palast häufig.

Prinzessin Anna von Großbritannien
Mezzotinto von Johann Christian Leopold
(Stiftung Händel-Haus, Halle)

Für Farinelli war dies nicht der erste Auftritt vor gekrönten Häuptern. 1732 hatte er am Wiener Hof gesungen. Dort dürfte ihn Fredericks Freund, Herzog Franz Stephan von Lothringen, gehört haben. Jedenfalls gab er dem Sänger ein Empfehlungsschreiben an den Londoner Hof mit – und erkundigte sich dann offenbar gespannt bei dem Freund in London, wie sein Schützling am britischen Hof aufgenommen wurde und ob er Prinz Frederick gefiel.

In seinem Antwortschreiben vom 20. Oktober 1734 – unserem Brief – nimmt der Prinz auf die Parteiungen Bezug, die sich gebildet hatten: auf der einen Seite Händels Opernunternehmen mit Carestini als einer der Hauptattraktionen und Fredericks Schwester Anne als Parteigängerin, auf der anderen die Opera of the Nobility mit Nicola Porpora als ihrem musikalischen Leiter, Farinelli als ‚Zugpferd‘ und Prinz Frederick als Anhänger:

"Ihr fragt mich, wie Farinelli mir gefällt; ich versichere Euch: in höchstem Maße, so sehr, dass ich nichts ihm Vergleichbares finde, und meiner Schwester gefällt er so-so, weil doch Carestini in Händels Haus singt, und er [aber] bei Porpora, wo ich immer hingehe; außerdem hat sie ihn nur zweimal in der Kammer gehört."

„Händels Haus“, das King’s Theatre am Haymarket, kannte Franz Stephan, ebenso den Komponisten; der Herzog hatte 1731 Aufführungen von Händels Poro und Admeto sowie Proben zu Tamerlano gehört.

In Fredericks Schreiben an Franz Stephan geht es noch um ein weiteres Thema: den Austausch von Musikalien. Jeder der beiden jungen Männer hatte Musikunterricht gehabt und war selbst begeisterter Musiker. Franz Stephan, Schüler von Henry Desmarest und Gottlieb Muffat, spielte Cembalo und Violine, Frederick Violoncello. Ein Gemälde von Philipp Mercier zeigt den Prinzen beim Musizieren mit seinen drei ältesten Schwestern, ihrerseits sämtlich Schülerinnen Händels.

Diesmal sendet Frederick dem Freund in Wien eine Oper und ein Oratorium, die ihm

"schön scheinen. Die erstere [die Oper] wird meinem Freund gefallen, bei dem andern [dem Oratorium] habe ich Angst, dass es Euch zu ernsthaft sein wird, aber da ich weiß, dass der Kaiser und die Kaiserin [Karl VI. und Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel] Liebhaber solcher Musik sind, schicke ich sie Euch für sie, für den Fall, dass Ihr dieses Musikstück für würdig erachtet, vor ihnen gespielt zu werden."

Die übersandte Oper war bislang nicht zu ermitteln, bei dem Oratorium handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Porporas David e Bersabea, das einige Monate zuvor, in der Fastenzeit 1734, in London erstaufge­führt worden war – tatsächlich liegt die Partitur heute in der Wiener Nationalbibliothek. Porporas in und für London entstandene Komposition ist interessant, weil der Komponist darin ganz offensichtlich versucht, gewissermaßen eine italienische Antwort auf Händels englische Oratorien zu geben – inklusive „Alleluia“-Chor als Schluss der Komposition.

Aber das wäre wieder eine andere Geschichte…